Beeindruckende Aufführung des Kantatenzyklus "Membra Jesu nostri"

HERBORN - 400 Kilometer ging der junge Sebastian Bach von Arnstadt in Thüringen bis nach Lübeck zu Fuß, nur um Dietrich Buxtehude in der Marienkirche spielen zu hören und von seiner Kunst zu lernen. Kein Wunder, denn Buxtehude galt damals als einer der hervorragendsten Musiker seiner Zeit. Er war eine der großen Gestalten der Kirchenmusik. In Lübeck ließ er eine alte Tradition wieder aufleben, nämlich Abendmusiken in der Kirche zu veranstalten. Buxtehude hinterließ 130 Vokalwerke, unter denen der Kantatenzyklus "Membra Jesu nostri" besonders herausragt. Dieses facettenreiche Werk, das der Komponist einem edlen Freund, dem Stockholmer Hofkapellmeister Gustav Düben, widmete, erlebte am Karfreitag in der Herborner Stadtkirche eine beeindruckende Aufführung.

Dank der Kantorei, dem "Collegium musicum antiquum" sowie den hervorragenden Gesangssolisten Mona Debus und Daniela Zehner (Sopran), Christian Ilg (Alt), Andreas Schwab (Tenor), und Andreas Balzer (Bass), die unter der souveränen Leitung von Kantorin Regina Zimmermann-Emde agierten, wurde diese Passionsmusik für die zahlreichen Zuhörer zu einem außergewöhnlichen Hörerlebnis. Das Leiden Jesu wird in diesem Zyklus in sieben Kantaten schmerzvoll in Erinnerung gerufen. In jeder meditieren die Musiker und Sänger in lateinischer Sprache über die einzelnen Glieder Jesu Christi - Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz und Kopf - am Kreuz. Die Worte sind der lateinischen Bibel Vulgata und der Rhytmica Oratio Sancti Bernardi entnommen, einem dem Heiligen Bernhard von Clairveaux zugeschriebenen Werk. Die Poesie dieses mittelalterlichen Mystikers, der im 12. Jahrhundert lebte, war im 17. Jahrhundert bei Katholiken und Protestanten äußerst beliebt.
Die Vertonung der sieben Kantaten ist sehr expressiv und dennoch nach innen gerichtet.

Die besondere Instrumentierung mit Barockviolinen, Gamben, Violone und Orgel sowie der Gesang der Solisten und der Kantorei unterstreicht wirkungsvoll die Intensität dieser Musik, die unter die Haut geht.
Jedem der sieben Teile ist eine Sinfonia, eine instrumentale Einleitung, die die Vertonung eines biblischen Textes beinhaltet, vorangestellt, jede von ihnen eine musikalische Vorahnung auf die jeweilige Kantate. Eine besondere Rolle kommt den Sängern und Sängerinnen bei der Gestaltung des Werkes zu. Sie vertiefen die Worte durch Betonungen und Wiederholungen, so dass die Texte gemeinsam mit der überaus farbenreichen Musik und dem Gesang eine harmonische, zu Herzen gehende Einheit bilden.
Als das Werk mit einem von den Sängern und Sängerinnen sowie der Instrumentalisten kunstvoll gestalteten "Amen" endete, verharrten die Zuhörer zunächst sichtlich beeindruckt in Stille, um danach mit begeistertem Beifall den Akteuren und besonders Regina Zimmermann-Emde für diese außergewöhnliche Aufführung zu danken.
ANGELIKA PLIETZSCH


Herborner Tageblatt, 23.4.2000, Foto: Plietzsch